Québec ist ja so ein Thema für sich mich: Ich war ein Jahr dort und habe es geliebt, sodass der Plan eines Tages dort für längere Zeit Mal zu leben, allen Widrigkeiten zum trotz, nicht ganz aufgegeben ist.
Bezeichnendes Symptom für diese Verbundenheit zu diesem Ort in Canada ist (für mich), wenn möglich sich auch grob über das Leben auf der anderen Seite des großen Teiches zu informieren. Nicht unbedingt aktiv, in dem ich mir eine Zeitung à la La Voix de l’Est nach Deutschland einschiffen lasse (geht das überhaupt?) oder die üblichen Onlinemedien à la cyberpresse.ca oder Radio Canada konsultiere – dazu fehlt in der Regel dann doch die Zeit. Aber eine kleine Tradition aus Zeiten des – eher langweiligen – „verDUNSen“¹ ist dann doch auch heute noch hängen geblieben: Mit einem Ohr CKOI 96,9 hören. Die Musikrotation ist zwar erschreckend klein und der Wortanteil der Moderatoren erstaunlich hoch: Aber selbst beim Reden sind die Wiederholungen teilweise extrem. Aber das habe ich eben auch schon gehört, als ich noch in Québec war, also habe ich mich da dran gewöhnt.
Ebenfalls nicht zu selten Wiederholt: Diverse Werbespots für die Wahlen in Québec vom 04. September 2012.
Ich muss zugeben, dass ich am Tag der Wahlen kaum Radio gehört habe und mich auch die Tage davor nie wirklich mit der aktuellen Stimmungslage in Québec beschäftigt habe. Insofern war ich da ziemlich auf den Stand von 2005/2006. Jean Charest von den Liberalen als Premier, die Konservativen irgendwo dicht auf den Fersen und die Parti Québécois als Separatisten nicht ganz ernstzunehmen. Stellt sich bei genauerer Lektüre heraus: OK, ganz so überhauptnicht ernstzunehmen sind die doch nicht, haben sie ja doch schon diverse Male auch einen Premier gestellt.
Kurz vorweg, die Überschrift sagt es ja auch schon: 2012 werden sie das auch wieder tun – dieses Mal mit Pauline Marois auch als erster weiblicher Premier.
Während ich in Québec war, kann ich mich nicht erinnern, dass irgendwer „Halleluja! Was bin ich nicht froh, dass wir die Liberalen (bzw. Jean Charest) an der Spitze unserer Regierung haben“. OK, um ehrlich zu sein kann ich mich auch nicht erinnern, dass ich überhaupt jemand Mal gesagt „Super, dass $jemand jetzt/$damals an der Macht ist/war“. (Mit Ausnahme von irgendwelchen Alt-Nazis – aber die nimmt eh niemand ernst). Aber ich war dann doch in den letzten Wochen über diese offensichtliche Unzufriedenheit über die Regierung von Jean Charest überrascht. Nicht dass sie mir aufgefallen wäre, weil ich mit vielen Leuten aus Québec gesprochen hätte. Aber dieses offensichtliche Ätzen von sogar (per Definition ja immer freien und unabhängigen) Journalisten, hier wieder: Radio, hat mich doch überascht.
Ich meine ja, ich weiß auch, dass wir in Deutschland so schöne Lieder wie „Wer hat uns verraten? [Sozialdemokraten]“ haben, aber dennoch würde ich nicht erwarten das so ein Lied im Radio aktiv und dauernd gespielt wird – und schon garnicht zur Wahlzeit, wo man sich ja möglichst neutral in der Regel aufstellt und brav allen Parteien gleichviel Bühne einräumt. Nicht so jedoch CKOI: Da läuft „Loco Locass – Libérez-Nous des Libéraux“ mit allen anderen Liedern in der erwähnten nicht besonders großen Musik-Rotation.
Aber ok, die PQ hat nun also die Wahlen gewonnen – und alles Friede, Freude, Eierkuchen Ahornsirupsaufen? Nun: Nein, nicht so wirklich. Während sicherlich irgendwo auch gefeiert wird „Endlich eine Frau als Premier“ (was zweifelsohne auch ein valider Grund zum feiern ist), steht halt auch der Schatten in Form „Erster poltisch motivierter Anschlag seit 40 Jahren“ über der Wahl.
Kurz zusammengefasst: Ein 62 jähriger Mann, welcher in Québec lebt, marschiert bewaffnet mit zwei Waffen ins Métropolis, legt dabei noch eben am Künstlereingang ein Feuer mit Brandbeschleuniger und versucht die frisch gewählte Premierministerin, Pauline Marois, zu erschießen. Das schafft er nicht, dafür muss aber eine andere Person mit ihrem Leben zahlen. Die Polizeit nimmt ihn fest, während er abgeführt wird, ruft er noch „Les Anglais sont révéillés!“, also grob „The English are awakening“/“The English will arise“. Auf der Pressekonferenz vor Ort mit der SPVM hört man dann noch u.a., dass es wohl schon Hinweise zu einem Anschlag an die Polizei am Vortag gab und auch einige Mitglieder der PQ per SMS Drohungen erhalten haben sollen. Und, dass das Ziel wohl eben Pauline Marois war.
Gut, zu dem Anschlag an sich, bleibt nicht viel zu sagen, dass ein Mensch dabei sein Leben verloren hat ist schrecklich genug.
Aber ich frage mich schon: Hat der wirklich so viel Angst vor dem Wandel, der potenziell in Québec kommen könnte?
Viele, die sich nicht mit der Gesichte Québecs bisher beschäftigt werden wahrscheinlich mit den Schultern zucken: „Na was wird wohl schon passieren?“. Wer die Geschichte kennt denkt sich wahrscheinlich eher „Uh uh…“. Doch was geschah?
Nun, die ganze Geschichte Québecs lässt sich vorzüglich u.a. in der Wikipedia nachlesen – als Austauschschüler hat man auch eine gute Chance sie direkt in Histoire 414 zu erlernen (bei Bedarf leihe ich auch gerne meine Schulunterlagen von damals aus oder scan sie mal ein). So oder so lernt man aber: Der Québécer ist stolz. Auf sich, auf seine Sprache. Fast so ein bisschen wie die Franzosen. Letzteres sagt man ihm aber besser nicht, das kommt nicht so gut an. „Historisch bedingt“ war und ist Québec von lauter englischsprachigen Provinzen und Menschen umgeben und drohte diverse Male auch komplett von der „verhassten“ englischen Sprache vereinnahmt zu werden. Diverse Bewegungen gegen das alles waren jedoch erfolgreich (siehe u.a. Loi 101), sodass Québec bis heute einen Sonderstatus in Canada genießt: Französisch ist erste und bevorzugte Amtssprache (Französische Texte müssen zwischen gleich und doppelt so groß wie das englische Pendant sein in offiziellen Publikationen) und auch sonst hat Québec diverse Freiheiten wie ein exklusives Recht seine Immigranten selbst auszuwählen und die dafür notwendigen Kriterien aufzustellen – zusätzlich zu denen die Canada selbst vorgibt. Aber es wurde oft genug versucht diese Freiheiten zu beschneiden. Und man wehrte sich. Man lässt sich ja nicht vom Engländer sagen, was man zu tun und lassen hat. God save the Queen, btw.
René Lévesque, ein heute noch beliebter Politiker – ebenfalls von der PQ – versuchte in der Zeit, in der einige extremistische Organisationen auch versuchten ein souveränes Québec herbeizuführen, es auf die friedliche Schiene und brachte 1980 ein Referndum zur Unabhängigkeit Québecs auf den Weg: Immerhin respektable 59,6% der Wähler waren gegen ein unabhängies Québec – zumeist aus wirtschaftlichen Überlegungen.
15 Jahre später, 1995 war die PQ mitlerweile wieder an der Macht, es gab ein erneutes Referndum: dieses Mal waren nur noch 50,58% der Wähler gegen ein unabhängiges Québec. Denkbar knapp.
Weitere 15 Jahre später, 2010 wäre also wieder Mal für ein Referandum gewesen – und schon 2005/2006 als ich in Québec war, rätselten diverse Leute darüber, ob es wieder eins geben würde. Unter anderem vorne mit dabei: Éric Lemieux, mein damaliger Geschichtslehrer. Seine Aussage war sinngemäß: „Die wären schön blöd, wenn sie [die Regierung] das machen würden – das könnte sogar noch klappen mit der Unabhängigkeit“. Auch er brachte wieder das Argument der Wirtschaft: Wie soll Québec dann seine Wirtschaft ausrichten?
Wenn man sich umschaut, was Québec so als „Flagship“-Produkte und Firmen hat, ist die Liste recht ernüchternd: Es gibt viel Papier (resp. Wald) welches auch teilweise bis nach Deutschland unter Namen Alouette kommt, Ahornsirup (wenn nicht gerade ein Großteil der strategischen Reserver geklaut wird), Züge und ähnliches von Bombardier und billiger Öko-Strom aus Wasserkraft (welcher schon jetzt zu Hochzeiten in die USA verkauft wird).
Selbst mit einer totalen Unabhängigkeit würde Québec noch lange kein Selbstläufer sein, im Grunde muss so gut wie alles dann importiert werden. Nur als Beispiel: Milch und Käse waren schon 2005 nicht billig, wenn das jetzt noch mehr importiert werden muss, mit Zoll und allem Pi-Pa-Po, wird das sicherlich nicht billiger. Man bräuchte also im Grunde dann sowas wie eine „Priviligierte Partnerschaft“ mit einem Land direkt an Québec dran. Also beispielsweise Canada. Resp. steht ausschließlich Canada zur Auswahl.
Aber eine Art priviligierte Partnerschaft mit Canada besteht ja auf Grund der schon jetzt anerkannten Einzigartigkeit innerhalb des Gesamtgefüges Canada. Nur dass Québec halt aktuell keine eigene Währung hat (das Canadian Tire-Geld zählt nicht) und eben aktuell keine Bundes- sondern eine Provinzbehörde ist. Big Deal.
Kommen wir aber zum Thema Unabhängigkeit konkret zurück – Referendum. Das 2010er Referendum fand ja nicht statt, weil auch die PQ nicht an der Macht war sondern die Liberalen mit Jean Charest. Und genauso wie jetzt viele Québécer sicherlich einem neuen (oder nachgeholtem) Referendum entgegenhibbeln, werden viele rein englischsprechende der Arsch auf Grundeis gehen. Denn – das glaube ich auch – wenn die PQ wieder an der Macht ist und nachdem die Liberalen recht großflächig versagt haben, ist die Stimmung für eine Abspaltung nicht gerade abträglich – wirtschaftliche Interessen und Sinn bzw. Unsinn komplett außenvor gelassen.
Seien wir Mal ehrlich: Die meisten Québécer (die ich kennengelernt habe und die nicht zugezogen waren) haben ein lausiges Englisch gesprochen. Und die meisten Zugezogenen, die kein Französisch gesprochen haben, haben es nicht unbedingt leicht in einer Welt, in der „French only“ voll ok, „English only“ aber verboten ist. Insofern kann ich durchaus die Angst einiger Leute verstehen, dass mit einer Abspaltung Québecs auch unter Umständen Englisch komplett als Amts- oder zumindest Umgangssprache geschasst wird und man dann ohne Französischkenntnisse recht doof dasteht. Und die Angst vor Rassismus auf Grund einer (dann) Fremdsprache und „fehlenden Integrationswillen“ ist ja auch nicht ganz von der Hand zu weisen.
Also ja, ich kann die Angst verstehen. Einen Anschlag rechtfertigt das selbstredend nicht! Ich meine, wie auch: Selbst wenn er sie erschossen hätte, dann hätte es halt keinen ersten weiblichen Premier gegeben sondern halt einen andern, wahrscheinlich männlichen. Aber dadurch wird die PQ auch nicht auf einmal zur Kuschel-Liberalen-Partei.
Aber trotz aller Liebe zu Québec und seinen Leuten: ich bin selbst aktuell überhauptnicht schlüssig ob ich eine Abspaltung gut oder schlecht finden soll. Hat ja alles Vor- und Nachteile.
Aber das Für und Wider habe ich/haben wir ja noch nicht Mal für Bayern vs. Deutschland klären können.
¹ DUNS, die -Nummer: Primary Key für eine Lieferanten-Nummer bei SIEMENS. verDUNSen, das: Zwei (vermeintlich) gleiche Datensätze auf Deckungsgleichheit überprüfen und dies bestätigen oder verneinen.